Megan Campisi, Sünde
aus dem Englischen von Leena Flegler, erschienen im Limes Verlag
Die junge Anna Owens wird im London des 16. Jahrhunderts bei einem Brotdiebstahl erwischt und verhaftet. Sie verbringt viele Tage im Gefängnis und während andere Gefangene rasch verurteilt werden, muss sie in der dunklen Zelle ausharren und auf ihre Strafe warten. Diese fällt ungeheurlich aus: Sie wird dazu bestimmt, als Sündenesserin am Bett Verstorbener deren böse Taten über bedeutungsvolle Speisen symbolisch zu sich zu nehmen und so den Toten den Weg ins Himmelreich zu öffnen. Anna ist entsetzt, obwohl dieses Amt ihr endlich die Sorge um die Beschaffung von Nahrung nimmt. Doch eine Sündenesserin ist eine Außenseiterin, keiner spricht mit ihr, keiner berührt sie, und somit ist Anna dazu verdammt, ein einsames Leben zu führen. Und über die Grausamkeiten ihrer Mitmenschen Bescheid zu wissen.
Dieser faszinierende Roman bewegt sich gekonnt zwischen Realität und Fiktion. Megan Campisi erschafft ein Bild des vorelisabethanischen London und seiner Bewohner, dass zugleich schillernd bunt und doch düster ist, zwischen finsterem Mittelalter und Neuzeit steht. Das Sündenessen am Totenbett, das laut Vorbemerkung der Autorin bis vor etwa 100 Jahren in England noch vereinzelt als Volksglauben praktiziert wurde, gestaltete sich in der Realität wahrscheinlich etwas weniger üppig, als im Roman beschrieben. Megan Campisis Erzählweise ist auch deswegen so einnehmend, weil es oft unklar bleibt, ob das Beschriebene den historischen Tatsachen entspricht oder „nur“ entsprechen könnte. Reale historische Persönlichkeiten bleiben trotz Verfremdung erkennbar, aber sie bewegen sich doch außerhab des belegbaren Kontexts. Ein insgesamt sehr beeindruckendes Buch und außergewöhliche Unterhaltung.
Ines Klisch [2023]