Edgar Selge, Hast Du uns endlich gefunden
erschienen im Rowohlt Verlag
Aus einem Stapel Neuerscheinungen habe ich mir willkürlich ein Buch gegriffen, dessen Cover eine wohltuende unaufgeregt Gestaltung hat. In einer ruhigen klaren Sprache sinniert der Erzähler darin über seine Kindheit in der Provinz des Nachkriegsdeutschlands. In einer Schlüsselszene berichtet er von einem Traum, in welchem er sehnsüchtig seine alten Eltern sucht. Als er seine alte Mutter findet, schaut diese ihn liebevoll an und er fühlt „… ein unbeschreibliches Glück.“ Sie sagt: „Hast du uns endlich gefunden“.
Im Fokus des Buchs stehen Selges Eltern, die beide Berliner Beamten- bzw. Musikerfamilien entstammen. Die elterliche Wohnung befindet sich in einer Jugendstrafanstalt, da der Vater der Anstaltsdirektor ist. Nach außen pflegt die Familie eine humanistische, bürgerliche Fassade. Beide Eltern spielen ein Instrument, der Vater Klavier und die Mutter Geige. Auch die drei Geschwister erhalten eine musikalische Ausbildung. Es gibt Hauskonzerte für die Häftlinge – „Wir wollen doch jedem eine Chance geben…“. Nach und nach erfährt der Leser, dass der Vater eng mit den Nationalsozialisten vernetzt war und wahrscheinlich ein höheres juristisches Amt bekleidet hatte. Nach Kriegsende konnten sich die Eltern mit Ach und Krach aus dem zerbombten Berlin in die Provinz absetzen. Selbst im hohen Alter huldigen sie ihrer deutsch-nationale Gesinnung und achten streng auf Sitte und Moral. Sie versuchen ihren Kindern diesen „Anstand“ weiterzugeben.
Aber der Jüngste rebelliert Er lügt, er stiehlt, er schleicht sich nachts heimlich aus dem Haus, um die amerikanischen Hollywoodfilme im Kino anzusehen, die in den Augen der Erwachsenen unsittlich sind. Das bleibt nicht verborgen und es setzt auch jedes Mal eine gehörige Tracht Prügel.
Erst nach dem Lesen ist mir aufgefallen, dass es sich bei Edgar Selge um einen bekannten Schauspieler handelt. „Hast Du uns endlich gefunden“ ist ein ernstzunehmendes und beeindruckendes literarisches Debut, welches mir sehr gefallen hat.
Marlies Uhde [2022]