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Helga Flatland, Die Resonanzen

aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Elke Ranzinger, Ecco Verlag 

Mathilde, die gern Schriftstellerin werden möchte wie ihre verstorbene Mutter, schlägt sich im quirligen Oslo als Lehrerin für Norwegisch durchs Leben. Sie beginnt eine sehr intensive Liebesbeziehung mit einem ihrer älteren Schüler, Jacob. Es kommt wie vorhersehbar: Die Beziehung wird publik und man legt ihr nahe, den Schuldienst zu quittieren. Mathilde ist ratlos und verzweifelt. Ihr geliebter Jacob hat sich aus für sie nicht nachvollziehbaren Gründen von ihr zurückgezogen. Sie versucht einen Ausbruch - es ist die Coronazeit - und sie beschließt, wie viele damals, sich ein Haus auf dem Land zu mieten. So hofft sie auch, endlich mit Konzentration an einem Roman arbeiten zu können, den sie seit Jahren plant.

Im Norden des Landes betreibt eine Familie in langer Familientradition einen Bauernhof. Es hat gerade einen Generationswechsel gegeben und die charakterstarke Besitzerin übergab ihren Betrieb an ihre beiden Zwillingssöhne. Andres hat schon Frau und Kinder, wogegen sein Bruder Johannes allein wohnt. Von ihm geht auch die Initiative aus, das lehre „Auszugshaus“ (so nennt man das Nebengebäude auf einem Bauernhof, in denen in der Regel die Seniorbesitzer des Hofes wohnen, zu vermieten, um in den schwierigen wirtschaftlichen Zeiten das Einkommen der Familie etwas aufzubessern. Mathilda zieht dort ein und Johannes ist von Beginn an von dieser Frau fasziniert.

Helga Flatland lässt den Leser abwechselnd von der Seite Mathildes und der des Johannes am Geschehen der Handlung teilhaben. Auffällig wird, dass sie es vermeidet, für ihre Figuren Partei zu ergreifen. So wird man auch als Leser in unterschiedlichste Empfindungen gestürzt. Helga Flatland beschreibt die Charaktere sehr fein und differenziert. Schritt für Schritt erschließen sich die verwebten Beziehungen der Menschen untereinander. Dies alles macht den besonderen Reiz des Buches aus. 

Der Originaltitel des Buches lautet „Etterklang“, zu Deutsch Nachklang. Das finde ich treffender. Flatlands Themen, Tradition und Moderne, die Stellung der Geschlechter in den unterschiedlichen Zeiten, habe ich in so einer Form noch nicht gelesen. Ein Echo unserer Vorfahren erreicht wohl fast jeden. Also lassen sie sich überraschen, denn es kommt alles ganz anders.                                                                           

Marlies Günther [Februar 2024]


Megan Campisi, Sünde

aus dem Englischen von Leena Flegler, erschienen im Limes Verlag

 


Die junge Anna Owens wird im London des 16. Jahrhunderts bei einem Brotdiebstahl erwischt und verhaftet. Sie verbringt viele Tage im Gefängnis und während andere Gefangene rasch verurteilt werden, muss sie in der dunklen Zelle ausharren und auf ihre Strafe warten. Diese fällt ungeheurlich aus: Sie wird dazu bestimmt, als Sündenesserin am Bett Verstorbener deren böse Taten über bedeutungsvolle Speisen symbolisch zu sich zu nehmen und so den Toten den Weg ins Himmelreich zu öffnen. Anna ist entsetzt, obwohl dieses Amt ihr endlich die Sorge um die Beschaffung von Nahrung nimmt. Doch eine Sündenesserin ist eine Außenseiterin, keiner spricht mit ihr, keiner berührt sie, und somit ist Anna dazu verdammt, ein einsames Leben zu führen. Und über die Grausamkeiten ihrer Mitmenschen Bescheid zu wissen. 


Dieser faszinierende Roman bewegt sich gekonnt zwischen Realität und Fiktion. Megan Campisi erschafft ein Bild des vorelisabethanischen London und seiner Bewohner, dass zugleich schillernd bunt und doch düster ist, zwischen finsterem Mittelalter und Neuzeit steht. Das Sündenessen am Totenbett, das laut Vorbemerkung der Autorin bis vor etwa 100 Jahren in England noch vereinzelt als Volksglauben praktiziert wurde, gestaltete sich in der Realität wahrscheinlich etwas weniger üppig, als im Roman beschrieben. Megan Campisis Erzählweise ist auch deswegen so einnehmend, weil es oft unklar bleibt, ob das Beschriebene den historischen Tatsachen entspricht oder „nur“ entsprechen könnte. Reale historische Persönlichkeiten bleiben trotz Verfremdung erkennbar,  aber sie bewegen sich doch außerhab des belegbaren Kontexts. Ein insgesamt sehr beeindruckendes Buch und außergewöhliche Unterhaltung.

Ines Klisch [2023]


Ella-Maria Nutti, Kaffee mit Milch

aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn, erschienen im Kindler Verlag

In der nordschwedischen Provinz ist das Leben ganz anders als im pulsierenden Stockholm. Das weiß Agneta genau, als sie in den Zug steigt und ihre heimatliche Kleinstadt in Richtung Metropole verlässt. Eine ganze Nacht wird die weite Fahrt dauern und sie wird Agneta, Ende Vierzig, für ein Wochenende in eine andere Welt bringen – in die Welt ihrer erwachsenen Tochter Tilda. Zwei Tage und zwei Nächte verbringen die zwei Frauen miteinander, in Tildas enger Wohnung, in diversen Cafés und Restaurants der Stadt und in der Kunstgalerie. Agneta hat einen wichtigen Grund, weswegen sie zu Tilda reist und Tilda spürt dies genau. Doch zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen herrscht eine Sprachlosigkeit, die kaum überwindbar zu sein scheint. Und so setzt Agneta zwar immer wieder an, doch die richtigen, die wichtigen Worte kommen ihr nicht über die Lippen.

Die Autorin Ella-Maria Nutti, selbst noch keine dreißig Jahre alt, hat sich der Aufgabe gestellt, eine Endvierzigerin in einer schwierigen Lebenssituation zu porträtieren. Dazu kommen schwergewichtige Themen wir Krankheit, Generationenkonflikte, Überforderung und persönliches Scheitern – eine herausfordernde Mischung, um einen emotional-berührenden, positiven Roman zu schreiben. Doch es gelingt Ella-Maria Nutti hervorragend, dies alles ins Gleichgewicht zu bringen, behutsam formulierend ihren Figuren menschliche Größe zu geben und dabei so viel Hoffnung zu vermitteln, dass dieses Buch seine Leserschaft mit einem warmen Gefühl zurücklässt. Ein unbedingter Lesetipp!

Ines Klisch [2023]


Raynor Winn, Überland

übersetzt von Christa Prummer-Lehmair, Heide Horn und Rita Seuß, erschienen im Dumont Verlag

Neulich entdeckte ich ein neues Buch von Raynor Winn bei uns im Regal. Was für eine Freude. Denn auch der „Salzpfad“ und „ Wilde Stille“ gehören bereits zum Programm bei uns. Die Geschichte, die hinter den drei Büchern steht, ist folgende: Zwei Schicksalsschläge haben das Leben Von Raynor Winn  und Ehemann Moth nachhaltig verändert. Sie haben durch die Fehlspekulation eines Freundes ihre Farm in Cornwall und ihr ganzes Vermögen verloren und Moth bekam eine Diagnose: CBS, eine seltene neurodegenerative Krankheit. Bereits in „ Salzpfad“ brechen die zwei auf um dem Schicksal zu trotzen, indem sie eine Wanderung auf einem der vielen Trails in England begannen. Und siehe da, Moths neurologischer Zustand besserte sich. Diesmal nun, Moths Zustand ist wieder schlechter, lautet die Empfehlung der Ärzte: Anstrengung vermeiden und aufpassen beim Treppensteigen! Nicht direkt eine Einladung zum Wandern auf Fernwanderwegen.

 

Warum sie sich für den Kap Wrath Trail, die härteste Wanderroute Großbritanniens entscheiden, die 350 km unmarkiert durch Sümpfe, Flüsse, windige Ebenen und über hohe Berge geht, ist rational nicht nachvollziehbar. Die Tour, begonnen im Mai, im englischen Dauerregen und in Kälte ist anfangs so hart, das Moth bereits nach einem halben Kilometer erschöpft ist. Doch bald schon werden die Tage wärmer und es scheint, als würde das Wandern seine Synapsen neu beleben. Beide schöpfen Kraft aus den Ausblicken von Hügeln auf Flüsse, die im Sommerlicht glitzern oder wenn sie morgens aus dem Zelt kommend Rothirsche beobachten.

 

Raynor Winn hat uns hier eine Geschichte erzählt, die zutiefst authentisch und frei von Romantisierung ist. Sie schreibt  über den Verlust der Biodiversität in Großbritannien, das langsame Verschwinden der Tierwelt, über Obdachlosigkeit und Landflucht. Und gleichzeitig ist dieses Buch ein beeindruckendes Zeugnis der menschlichen Stärke und der Regenerationsfähigkeit des Körpers, wenn man über seine Grenzen geht. Dieses Buch ist also ein klein wenig traurig, aber in erster Linie hoffnungsvoll – und wunderbar zu lesen.

 

Barbara Weil [2023]

 


Trude Teige, Als Großmutter im Regen tanzte

aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob, erschienen im S. Fischer Verlag

Trude Teige ist eine bekannte Journalistin in Norwegen. Sie recherchierte über norwegische Frauen, die deutsche Soldaten heirateten und mit ihnen nach Deutschland gingen, und erzählt von einem Teil der norwegischen Geschichte, über den erstaunlich wenig bekannt ist. Die Norwegerinnen gaben in ihrer Heimat alles auf, wurden teilweise von ihren Familien verstoßen, verloren ihre Staatsbürgerschaft. Trude Teige hat das Schicksal eines sogenannten Deutschenmädchens in ihrem Roman spannend und emotional berührend erzählt. Ihr Roman spielt auf zwei Zeitebenen: Im Heute treffen wir Juni, eine junge Frau, die für eine Auszeit auf die Insel ihrer Kindheit flüchtet, wo sie behütet von ihren Großeltern aufgewachsen ist, da ihre Mutter sich wenig Zeit für sie genommen hat. Beide Großeltern sind inzwisc

hen verstorben und auch ihre Mutter lebt nicht mehr. Wer ihr Vater war hat Juni nie erfahren, ihre Mutter hat nicht über ihn gesprochen. Beim Aufräumen findet Juni ein Foto ihrer Großmutter Thekla mit einem deutschen Soldaten. Wer ist dieser Mann? Es gibt Dokumente, die Juni nicht zuordnen kann. Es gibt keine Angehörigen mehr, die sie fragen könnte. Sie beginnt Nachforschungen anzustellen und entdeckt Ungeheuerliches.

In der zweiten Zeitebene taucht der Leser in die Geschichte der Großmutter Tekla ein, die als junges Mädchen am Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat und ihre Familie in Norwegen verließ, um mit dem deutschen Soldaten Otto nach Demmin zu gehen und dort bei seiner Familie zu leben. Es war ein beschwerlicher Weg und endlich angekommen, müssen sie Furchtbares entdecken.Der Roman „Als Großmutter im Regen tanzte“ erklomm für viele Wochen – verdient, wie ich finde – die Bestsellerlisten. Mich hat das Schicksal der Frauen tief berührt, ihre Stärke und Kraft in dieser schwierigen Zeit und der Einblick in die Geschichte der Deutschenmädchen war für mich neu und sehr interessant.

Petra Rieche [2023]


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